US-Besatzer in Deutschland: Sieger ohne Gespür für die Opfer Für die jüdischen Opfer des Naziregimes zeigten die siegreichen US-Truppen zunächst wenig Verständnis und Mitgefühl. Vor 75 Jahren erschien der schockierende Harrison-Report.

Von Hans-Peter Föhrding

13.10.2020, 08.17 Uhr

Der Lesestoff war reichlich - und schwere Kost: Am 30. September 1945 veröffentlichte die "New York Times" einen Artikel zum Untersuchungsbericht, der als "Harrison-Report" zu einem der bedeutsamsten Dokumente der Nachkriegsgeschichte zählt. Der Bericht aus dem Weißen Haus enthielt eine kapitale Klatsche gegen die eigenen Streitkräfte im fernen Europa. Zugespitzt mit einem NS-Vergleich: "Wie die Dinge jetzt aussehen, scheinen wir die Juden zu behandeln, wie es die Nazis taten, mit dem alleinigen Unterschied, dass wir sie nicht vernichten." Speisesaal der Sammelstelle für verschleppte Juden in Landsberg am Lech im Dezember 1945.
Foto: ullstein bild

Die USA im Sommer 1945: Der Sieg über Nazideutschland beherrschte die öffentliche Stimmung. Die militärischen Erfolge der US-Truppen auf den europäischen Schlachtfeldern boten reichlich Anlass zu Stolz und Jubel. Dennoch mischten sich in den Jubel dissonante Töne, erst vereinzelt, dann immer lauter.

Es waren Meldungen und Schilderungen über katastrophale Bedingungen in ehemaligen Konzentrationslagern und Zwangsarbeiterunterkünften, die nunmehr für die Unterbringung von Flüchtlingen genutzt wurden. Darunter viele Juden, die dem Holocaust entkommen waren. Ein Großteil der Entwurzelten hatte durch den Naziterror ihre Heimat verloren, sie konnten und wollten aufgrund der politischen Veränderungen nicht in ihre Ursprungsländer zurückkehren. Die Uno klassifizierte sie als Displaced Persons (DPs).

Es mehrten sich Beschwerden von herablassender bis verächtlicher Behandlung der DPs durch US-Soldaten, vor allem deren Offiziere; die Juden verlangten eigene Camps, weil sie - ihrer jeweiligen Nation zugeordnet - sich oftmals mit vormaligen Nazikollaborateuren konfrontiert sahen. Das führte zu Streitereien und Misshelligkeiten, sogar Schlägereien. Über allem der erbärmliche Lebensalltag in den Lagern.

Massive Vorwürfe gegen die US-Regierung

Berichte der unerquicklichen Zustände gelangten zügig in die amerikanische Öffentlichkeit. Als Quelle dienten häufig Briefe und Schilderungen von GIs an Familien und Freunde. Die Nachrichten aus dem besetzten Germany lösten bei der Bevölkerung Bestürzung aus. Die Washingtoner Regierung unter Harry S. Truman sah sich massiven Vorwürfen ausgesetzt, jüdische Verbände verlangten schnelle Abhilfe.

Unter diesem Druck beauftragte der Präsident am 22. Juni 1945 Earl G. Harrison mit einer Inspektion der DP-Lager in Deutschland und Österreich. Besonderes Augenmerk sollte er auf die jüdischen Überlebenden legen. Dafür war der 46-jährige Jurist bestens gerüstet. Bei seiner früheren Tätigkeit im US-Justizministerium befasste er sich mit Einwanderungsfragen, unter Präsident Roosevelt arbeitete er von 1942 bis 1944 als Leiter der Immigrationsbehörde.

Im Juli 1945 bereiste Harrison 30 DP-Camps in Deutschland und Österreich. Ihn begleitete Joseph J. Schwartz, Europa-Direktor der jüdischen Hilfsorganisation American Joint Distribution Committee. Häufig dabei war Chaplain Abraham Klausner, der als Militärrabbiner durch besonderes persönliches Engagement mehrere Unterstützungsaktionen für jüdische Überlebende innerhalb der US-Besatzungstruppen angekurbelt hatte. Sein Beistand erleichterte es Harrison, sich in den chaotischen Nachkriegsverhältnissen zurechtzufinden.

Eine einzige Blamage

Was der Emissär aus Washington zu sehen bekam, muss ihn erschüttert haben. Sein Dossier übermittelte er dem Präsidenten schon am 3. August 1945 und listete eine lange Reihe von Missständen und Fehlentscheidungen auf. Er stellt den US-Militärbehörden ein denkbar schlechtes Zeugnis aus - eine einzige Blamage für die verantwortliche Siegermacht. Harrison bemängelte etwa...

Im Bericht empfahl Harrison, die DP-Camps künftig von der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, der UNRRA, verwalten zu lassen. Für die Juden vermerkte Harrison: Sie müssten als am grausamsten verfolgte Gruppe besonders unterstützt werden. Deshalb solle von der bisherigen Praxis abgewichen werden, diese DPs nach der früheren Nationalität einzuordnen.

Der Abgesandte forderte den Aufbau separater Lager für die jüdischen Überlebenden, um ihre speziellen Bedürfnisse besser zu berücksichtigen und erstellte eine lange Bedarfsliste: mehr Kleidung und Schuhe, abwechslungsreiche Kost, ausreichende Medizin, religiöser und unterhaltsamer Lesestoff; zugleich Tuberkulose-Sanatorien, psychische Heilstätten, Rehabilitationszentren.

"Man muss sich fragen, ob das deutsche Volk nicht annehmen muss, dass wir die Nazipolitik fortsetzen oder zumindest billigen"

Von einiger Brisanz waren Harrisons Feststellungen zur Zukunft der jüdischen Überlebenden. Die Mehrheit, so bemerkte er, wolle nach Palästina auswandern. Es könne allerdings nicht sein, dass sich die Tore der KZ geöffnet, doch die von Palästina geschlossen hätten. Folglich appellierte er an die Mandatsmacht Großbritannien, mit ihren rigiden Einwanderungsbeschränkungen für Palästina zu brechen und 100.000 Zertifikate zusätzlich für die jüdischen DPs auszustellen.

Harrisons kritisches Urteil gipfelte in einer Sentenz, die es in sich hatte: "Eine große Anzahl von ihnen befinden sich in Konzentrationslagern, nur unter unserer Militärbewachung statt von SS-Truppen. Man muss sich fragen, ob das deutsche Volk, wenn es das sieht, nicht annehmen muss, dass wir die Nazipolitik fortsetzen oder zumindest billigen."


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Überhaupt: Die Deutschen kamen im Urteil Harrisons schlecht weg. Sie seien die am besten gekleideten Leute in Europa. Während die Naziverfolgten in überfüllten Lagern eingepfercht würden, säßen sie ungestört in ihren Häusern, vor allem auf dem Lande. In Deutschland empfinde man keine Schuld am Krieg, an dessen Ursachen und Folgen. Die Deutschen weigerten sich, Verantwortung zu übernehmen für "das, was sie über sich gebracht haben".

Es war ein harter Brocken für Truman. Nach einigen Beratungen schrieb der Präsident Ende August einen grimmigen Brief an "meinen lieben General Eisenhower", samt Kopie des Reports. Im bestimmten Ton verlangte er vom Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen in Deutschland die schnelle Umsetzung von Harrisons Empfehlungen. Er machte ihm Vorwürfe, dass einige seiner Offiziere die US-Haltung in den DP-Lagern, vor allem gegenüber den Juden, nicht ausgeführt hätten. Diese Menschen hätten Vorrang vor der deutschen Zivilbevölkerung, besonders bei der Unterbringung. "Wir haben besondere Verantwortung gegenüber den Opfern von Verfolgung und Tyrannei in unserer Zone", betonte der Präsident.

Patton wurde als Antisemit gefeuert

Der deutliche Rüffel aus dem Weißen Haus erwischte den selbstbewussten General auf dem falschen Fuß. Denn Eisenhower hatte gerade eine andere peinliche Affäre zu bewältigen: Er sah sich gezwungen, den Militärgouverneur von Bayern aus dem Amt zu feuern - General George Smith Patton, einen langjährigen Freund und Kampfgefährten aus dem Ersten Weltkrieg.

General Dwight D. Eisenhower, General George S. Patton und US-Präsident Harry S. Truman im Juli 1945 in Berlin. General Dwight D. Eisenhower, General George S. Patton und US-Präsident Harry S. Truman im Juli 1945 in Berlin.
Foto: Granger, NYC / ullstein bild

Als furchtloser Haudegen hatte Patton als Kommandeur des 3. Armeekorps von 1943 bis 1945 das Ansehen eines strahlenden Kriegshelden erworben. Patton war es auch, der am 11. April 1945 mit seinen Truppen das KZ Buchenwald befreite. Entsetzt über die grässlichen Bilder zwang er wenige Tage später die Einwohner Weimars, sich selbst einen Eindruck von der Folter- und Todesstätte auf dem Ettersberg zu verschaffen.

Aber es gab auch den anderen Patton, und der war ein widerwärtiger Antisemit. Mal bezeichnete er Juden als "verlorenen Stamm", dann als "größten stinkenden Menschenhaufen", schließlich "niedriger als Tiere". Die SS hingegen pries er als "eine verdammt gut aussehende Bande von sehr disziplinierten Hurensöhnen". Eisenhower blieb nichts anderes übrig, als den untragbaren Kameraden aus dem Verkehr zu ziehen.

Als der Oberbefehlshaber am 8. Oktober 1945 Truman antwortete, redete er sich zunächst mit den vielen Schwierigkeiten heraus, die seine Militärs zu bewältigen hätten. Zudem listete er die vielen Anstrengungen auf, die bereits zur Verbesserung der Lebensbedingungen der jüdischen DPs unternommen worden seien. Missstände gingen zulasten untergeordneter Kommandeure, die nicht spurten. "Perfektion wird nie erreicht, Mr. President", keilte Eisenhower zurück.

Nur fort vom verfluchten alten Kontinent

Tatsächlich veränderte der Harrison-Report die Situation für die jüdischen DPs wesentlich. Die meisten Empfehlungen wurden zügig umgesetzt. Durch die Einrichtung separater Lager wurde die Möglichkeit geschaffen, dass sich dort eine eigenständige jüdische Identität wieder entwickeln konnte, kleine Abbilder der durch den Holocaust vernichteten typischen Schtetl-Kultur in Osteuropa.

Zudem erwies sich der Report als weitsichtig. Denn als Anfang 1946 die Zahlen jüdischer Flüchtlinge aufgrund des neuen aggressiven Antisemitismus in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und den baltischen Staaten emporschnellten, boten die US-Camps in Süddeutschland sichere Auffangstationen.

Nach dem entsetzlichen Pogrom im polnischen Kielce, bei dem im Juli 1946 ein aufgeputschter Pöbel 42 Juden brutal erschlug, gab es kein Halten mehr. Bis 1947 kehrten rund 300.000 osteuropäische Juden ihren Heimatländern den Rücken, ihr erster Anlaufpunkt waren die DP-Lager der Amerikaner. Allerdings lediglich als Zwischenstopp, denn ihr wahres Ziel hieß Auswanderung, vornehmlich nach Palästina, auch in die USA, nach Südamerika, gar Australien - nur fort vom verfluchten alten Kontinent.

Wiesbaden 1945: Flüchtlinge aus einem Lager für Verschleppte warten auf die Abfahrt in ihre Heimat.
Foto:?ullstein bild

Gerade für die Zukunftsperspektive der meisten Juden stieß der Harrison-Report eine nachhaltige Entwicklung an. Der Historiker Dan Diner spricht von einer "weltpolitischen Zeitenwende", die der Bericht ausgelöst habe, eben jener Machtübertragung innerhalb der angelsächsischen Nationen von der vormaligen Weltmacht Großbritannien auf die USA als neue Führungsnation.

Über die Einwanderung von 100.000 DPs nach Palästina kam es zwischen Amerikanern und Briten zu einem verbissenen Dauerclinch. Truman drängte beständig, doch London übt sich stur in Blockade. Schließlich entschied der US-Präsident, eine Teilung des Mandatsgebietes anzustreben - mit einer festen Heimstatt für die Juden. Im November 1947 kam es in der Uno zum Teilungsbeschluss. Als sich am 14. Mai 1948 der Staat Israel konstituierte, hieß es endlich: Die Tore stehen für alle Juden offen.


Quelle: spiegel vom 13.10.2020